Exklusiv und im Original: Tim Krohns Keynote zum Regionaltag von "Anders weiter!".
Original-Keynote von Schriftsteller Tim Krohn am Regionaltag von "Anders weiter!" vom 10. September 2024 im Sihlcity Zürich, 1:1 und mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Als Kind lernte ich, dass man zur Schule geht, dann einen Beruf erlernt, Karriere macht, als Bäcker etwa, und mit siebzig zufrieden als pensionierter Bäckermeister stirbt. Dieser Glaube wurde erschüttert, als ich in der Mittelschule erfuhr, dass ich mit 35 sterben werde. Der Club of Rome, die Wissenschaftsinstanz schlechthin, hatte errechnet, dass bis zum Jahr 2000 weltweit alle Wälder eingegangen und die Rohstoffe verbraucht sein werden, um die verbleibenden entbrennt ein globaler Atomkrieg – der letzte. Danach wurde ich vierzig, fünfzig ... Der Exodus lässt noch auf sich warten.
Dennoch, der Glaube meiner Generation an ein langes, erfülltes Leben war erschüttert. Ich versuchte, das Beste daraus zu machen und gab mit sechzehn Jahren mein Debüt als Schriftsteller. Die Literaturwelt lachte mich allerdings nur aus, ihr Tenor war: Vor fünfzig hast du sowieso nichts zu erzählen. Was weiss ein Schnösel wie du schon vom Leben?
Die Zeiten änderten sich. Als ich mit fünfzig einen neuen Verlag suchen musste, sagten mir die Verlegerinnen: Was willst du noch? Du hattest deine Karriere. Du bist alt, weiss, Mann, sowas lässt sich nicht mehr verkaufen. Die Gegenwart gehört den Jungen, den Frauen und Queeren, den Minderheiten. Und das ist ja auch nicht falsch. Wir alten weissen Männer hatten weiss Gott unsere Zeit. Andere werden heute schon mit fünfunddreissig, vierzig ausgemustert. Lebenslange Karrieren gibt es so gut wie nicht mehr, ganze Berufszweige werden erfunden und verschwinden wieder. «Anders weiter» ist in diesem Sinn längst Normalität.
Wir wollen hier ja aber nicht fatalistisch sein, sondern futuristisch. Vielleicht hilft es, wenn wir «anders» kurz zur Seite legen und uns dem zweiten Wort im Titel widmen, «weiter». Auch das beschreibt allerdings längst keine Utopie mehr. Weiter, immer weiter. Immer schneller, immer atemloser. Das ist der Alltag. Wir können uns nur noch in Bewegung sehen. Was wäre die Alternative? Ruhe? Allein das Wort lässt viele erschrecken. Ruhe, ist das nicht Stillstand, Erstarrung? Ist Ruhe nicht das Motto der Loser
Nein, ist es nicht. Bert Brecht schrieb vor hundert Jahren einen äusserst beliebten Gassenhauer, die Dreigroschenoper. «Denn alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher», liess er singen. In einer Zeit, die unserer so unglaublich ähnlich war, ähnlich grell, ähnlich atemlos. Die goldenen Zwanziger. Sie mündeten in den zweiten Weltkrieg. Über jene Zeit schrieb ich einen Roman, eben weil sie der Gegenwart so sehr gleicht. Mein damaliger Verlag hat das Buch allerdings abgelehnt. Mit der Begründung, Henni, meine Heldin, ein jüdisches Mädchen, das Tänzerin werden will, entwickle sich nicht. Deshalb tauge sie nicht zur Heldin. Falsch, sagte ich. Eben weil sie sich nicht entwickelt, weil sie nicht mit der Zeit geht, weil sie sich treu bleibt in einer Welt, in der alle sonst ihre Werte verraten, ist sie eine grossartige Heldin. Sie hält an dem fest, woran sie glaubt, und trotzt einer Gesellschaft, die nur noch einen Wert kennt: das Geld. Sie bleibt standfest in einer Zeit, in der die Menschheit dem Glück nachrennt, bis sie tot umfällt.
«Denn alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher». Brechts Satz ist mehr als nur ein hübscher Vers, er ist eine Handlungsaufforderung und heute so dringlich wie damals, in den Geburtsstunden des Nationalsozialismus. Was will ich sagen? Wenn Sie in einen reissenden Fluss steigen und einfach nur stehen bleiben, zeigen Sie nicht Erstarrung, sondern Widerstand. Ihr Verharren erzeugt Reibung. Vielleicht verlangsamt sich die Strömung sogar ein ganz kleines bisschen. Und wenn ganz viele Menschen in den Fluss steigen? Wird irgendwann der ganze Strom zur Ruhe kommen. Die Welt kann wieder Atem schöpfen. Neu sehen lernen. Wieder zuhören. Und darauf warten, dass das Glück sie einholt.
Und die Frage nach dem «Wie weiter» erhält eine ganz neue, so utopische wie poetische Qualität.
Tim Krohn
Verfasst von:
Thomas Stucki